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FUNDEVOGEL
>Es war einmal ein Förster, der ging in den Waid auf die Jagd, und wie
er in den Wald kam, hörte er schreien, als ob's ein kleines Kind
wäre. Er ging dem Schreien nach und kam endlich zu einem hohen Baum, und
oben darauf saß ein kleines Kind. Es war aber die Mutter mit dem Kinde
unter dem Baum eingeschlafen, und ein Raubvogel hatte das Kind in ihrem
Schoße gesehen; da war er hinzugeflogen, hatte es mit seinem Schnabel
weggenommen und auf den hohen Baum gesetzt.<
Zu FORST schreibt das Deutsche Wörterbuch: ursprünglich aber nicht
jeder wald, sondern bannwald, herrwald, fronwald, im gegensatz zur mark, dem
allen genossen gemeinen wald . . wir wissen nicht bestimmt, welcherlei
wälder unsere vorfahren den göttern weihten. forestare, afforestare
hiesz . . einen wald zum forst machen, ihn bannen und hegen, d.h. dem gemeinen
gebrauch entziehen . . da nun die gemeinwälder der markgenossen wesentlich
zur weide und mast dienten, so bestanden sie vorzugsweise aus eichen und buchen
im gegensatz zu den schwarzwäldern, die sich hauptsächlich für
bannwälder eigneten . . daher auch die förster im dienst des herrn
stehen, die markgenossen genau genommen keine förster halten und die
gerichtsstätte gern im forst lag.
so daß der Förster zum König und
dem Heiligen Bezug hat und über ein Gebiet, das dem König und dem
Heiligen zuzuordnen ist, Ob=acht.
schreien bezeichnete
ursprünglich die Stimme von Tieren. Wir erinnern uns: es ist zur
Schallwurzel *ker-, die lateinisch cornix 'Krähe',
corvus, griechisch korax 'Rabe' bewahrt hat.
Beides Vögel! und unser Held heißt Funde=VOGEL. In Wahrheit aber
führt das Schreien den Förster zu einem kleinen Kind, klein
geht auf 'glänzend', KIND auf Bedeutungen wie 'Geschlecht', 'Geburt',
'erzeugen'.
Das Märchen bestimmt eine Entgegensetzung,
die der Jäger überbrückt: das Kind ist oben :: die Mutter unten
am Baum. letztere ist eingeschlafen , was zu 'nachlassen' ist.
Wir haben unten eine Mutter, die
einem Nachlassen unterworfen ist, oben einen Jungen, der sich
schreiend über die gewaltsame Erhöhung beschwert, die ihm offenbar
nicht behagt.
Geraubt wurde der Knabe aus dem SCHOSS,
Grundbedeutung 'Ecke', das Deutsche Wörterbuch schreibt: die
grundbedeutung des mit neuhochdeutsch schieszen zusammenhängenden . .
Wortes ist spitze, winkel, ende. Es gibt weiter an: an bäumen und
sträuchern der sprosz eines jahres, Steckling, dann überhaupt zweig,
junger trieb. Und: schosz für schusz . . im sinne von neigung . .
Wendungen, wie die letzten, scheint die Vorstellung des auf seine beute
herabschieszenden vogels beeinfluszt zu haben. Und: vorspringender,
vorschieszender theil an einem hause, vorspringendes Stockwerk, dann
überhaupt Stockwerk (jetzt geschosz).
Wieder begegnet uns ein VOGEL, diesmal im Sinne
einer Neigung oder Wendung. Diese Bewegung steht im Kontrast zum Nachlassen der
Mutter. Und tatsächlich setzt im Märchen ein Vogel den Knaben, der
nachlassenden Mutter entgegen, in eine Höhe, die ihm freilich zu
entschieden ist. Wobei Schoß als Ecke auch etwas vorspringendes bedeutet.
Der herabschießende Raubvogel entreißt den Knaben der schlafenden,
nachlassenden Mutter, wo er ausgestellt war.
Nun ist uns die Entführung eines Knaben
durch einen Raubvogel bekannt: Zeus holt sich Ganymedes als Mundschenk in den
Himmel. Der Kleine Pauly führt an, daß der Adler in der Sage erst im
Hellenismus auftritt. Bei Homer ist es im Hymnus der Aphrodite noch eine
Windsbraut. RAUB jedoch geht auf Entreißen. Das Deutsche Wörterbuch
schreibt: woraus sich der begriff der beute ergibt . . namentlich gewand und
rüstung des besiegten. Haben Windsbräute, Walküren und
Raubvögel eine uralte Identität? so daß obige Ausbildung des
Hellenismus nur konsequent wär und den Raubvogel mit dem Zeustier Adler
schließlich in Verbindung bringt?
Späthellenisch gar wäre, so Der Kleine
Pauly, die Verstirnung des Ganymedes als Wassermann, des Zeus als Adler. Die
Griechen übernahmen die Sternbilder von den Babyloniern. Wenn sie sich
also um eine mythologische Einordnung ihrer mythischen Gestalten mit jenen
himmlischen Wesen bemühen, gelingt dies nur durch Angleichung oder
Transformation. Letztere ist ein Mittel des lebendigen, zeitgleichen Mythos, wo
Abgrenzung durch Gegenbestimmung vonstatten geht. Angleichung ist die Arbeit
mit dem historischen Mythos: gegenwärtiges mythisches Material wird
überkommenen anverwandelt. In beiden Fällen herrscht nicht
Beliebigkeit, sondern Nachvollzug der Strukturen. Raubvogel -Windsbraut - Adler
ergäbe sich danach als Folge, nicht als Erfindung. Im Späthellenismus
setzt gar Zeus das Bild des Ganymedes als das des Aquarius, des
Wasserträgers, unter die Sterne, nachdem Hera, deren Tochter zuvor
Mundschenk der Götter gewesen, Einspruch erhob.
Lassen wir uns auf diese Verweise ein.
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