Exposé | Frank Töppe | Katalog
Leseprobe zu
DAS GEHEIMNIS DES BRUNNENS - Band IV


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FUNDEVOGEL

>Es war einmal ein Förster, der ging in den Waid auf die Jagd, und wie er in den Wald kam, hörte er schreien, als ob's ein kleines Kind wäre. Er ging dem Schreien nach und kam endlich zu einem hohen Baum, und oben darauf saß ein kleines Kind. Es war aber die Mutter mit dem Kinde unter dem Baum eingeschlafen, und ein Raubvogel hatte das Kind in ihrem Schoße gesehen; da war er hinzugeflogen, hatte es mit seinem Schnabel weggenommen und auf den hohen Baum gesetzt.<

Zu FORST schreibt das Deutsche Wörterbuch: ursprünglich aber nicht jeder wald, sondern bannwald, herrwald, fronwald, im gegensatz zur mark, dem allen genossen gemeinen wald . . wir wissen nicht bestimmt, welcherlei wälder unsere vorfahren den göttern weihten. forestare, afforestare hiesz . . einen wald zum forst machen, ihn bannen und hegen, d.h. dem gemeinen gebrauch entziehen . . da nun die gemeinwälder der markgenossen wesentlich zur weide und mast dienten, so bestanden sie vorzugsweise aus eichen und buchen im gegensatz zu den schwarzwäldern, die sich hauptsächlich für bannwälder eigneten . . daher auch die förster im dienst des herrn stehen, die markgenossen genau genommen keine förster halten und die gerichtsstätte gern im forst lag.
     so daß der Förster zum König und dem Heiligen Bezug hat und über ein Gebiet, das dem König und dem Heiligen zuzuordnen ist, Ob=acht.
     schreien bezeichnete ursprünglich die Stimme von Tieren. Wir erinnern uns: es ist zur Schallwurzel *ker-, die lateinisch cornix 'Krähe', corvus, griechisch korax 'Rabe' bewahrt hat. Beides Vögel! und unser Held heißt Funde=VOGEL. In Wahrheit aber führt das Schreien den Förster zu einem kleinen Kind, klein geht auf 'glänzend', KIND auf Bedeutungen wie 'Geschlecht', 'Geburt', 'erzeugen'.
     Das Märchen bestimmt eine Entgegensetzung, die der Jäger überbrückt: das Kind ist oben :: die Mutter unten am Baum. letztere ist eingeschlafen , was zu 'nachlassen' ist.
     Wir haben unten eine Mutter, die einem Nachlassen unterworfen ist, oben einen Jungen, der sich schreiend über die gewaltsame Erhöhung beschwert, die ihm offenbar nicht behagt.
     Geraubt wurde der Knabe aus dem SCHOSS, Grundbedeutung 'Ecke', das Deutsche Wörterbuch schreibt: die grundbedeutung des mit neuhochdeutsch schieszen zusammenhängenden . . Wortes ist spitze, winkel, ende. Es gibt weiter an: an bäumen und sträuchern der sprosz eines jahres, Steckling, dann überhaupt zweig, junger trieb. Und: schosz für schusz . . im sinne von neigung . . Wendungen, wie die letzten, scheint die Vorstellung des auf seine beute herabschieszenden vogels beeinfluszt zu haben. Und: vorspringender, vorschieszender theil an einem hause, vorspringendes Stockwerk, dann überhaupt Stockwerk (jetzt geschosz).
     Wieder begegnet uns ein VOGEL, diesmal im Sinne einer Neigung oder Wendung. Diese Bewegung steht im Kontrast zum Nachlassen der Mutter. Und tatsächlich setzt im Märchen ein Vogel den Knaben, der nachlassenden Mutter entgegen, in eine Höhe, die ihm freilich zu entschieden ist. Wobei Schoß als Ecke auch etwas vorspringendes bedeutet. Der herabschießende Raubvogel entreißt den Knaben der schlafenden, nachlassenden Mutter, wo er ausgestellt war.
     Nun ist uns die Entführung eines Knaben durch einen Raubvogel bekannt: Zeus holt sich Ganymedes als Mundschenk in den Himmel. Der Kleine Pauly führt an, daß der Adler in der Sage erst im Hellenismus auftritt. Bei Homer ist es im Hymnus der Aphrodite noch eine Windsbraut. RAUB jedoch geht auf Entreißen. Das Deutsche Wörterbuch schreibt: woraus sich der begriff der beute ergibt . . namentlich gewand und rüstung des besiegten. Haben Windsbräute, Walküren und Raubvögel eine uralte Identität? so daß obige Ausbildung des Hellenismus nur konsequent wär und den Raubvogel mit dem Zeustier Adler schließlich in Verbindung bringt?
     Späthellenisch gar wäre, so Der Kleine Pauly, die Verstirnung des Ganymedes als Wassermann, des Zeus als Adler. Die Griechen übernahmen die Sternbilder von den Babyloniern. Wenn sie sich also um eine mythologische Einordnung ihrer mythischen Gestalten mit jenen himmlischen Wesen bemühen, gelingt dies nur durch Angleichung oder Transformation. Letztere ist ein Mittel des lebendigen, zeitgleichen Mythos, wo Abgrenzung durch Gegenbestimmung vonstatten geht. Angleichung ist die Arbeit mit dem historischen Mythos: gegenwärtiges mythisches Material wird überkommenen anverwandelt. In beiden Fällen herrscht nicht Beliebigkeit, sondern Nachvollzug der Strukturen. Raubvogel -Windsbraut - Adler ergäbe sich danach als Folge, nicht als Erfindung. Im Späthellenismus setzt gar Zeus das Bild des Ganymedes als das des Aquarius, des Wasserträgers, unter die Sterne, nachdem Hera, deren Tochter zuvor Mundschenk der Götter gewesen, Einspruch erhob.
     Lassen wir uns auf diese Verweise ein.
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